Einleitung Chaboussou

In der afrikanischen Savanne kann man oft beobachten, wie Herden von Gazellen in Sichtnähe an Lagerplätzen von Löwen oder Geparden langsam grasend vorbei-wandern. Die Gazellen beobachten aufmerksam die Raubtiere, scheinen sich aber nicht zu fürchten. Die Geparden oder Löwen beobachten auch sehr scharf. Es passiert aber nichts. Die Herde verschwindet wieder am Horizont. Anscheinend wissen die Räuber, daß sie wenig Chance haben, gesunde Gazellen rennend einzuholen. Aber welche Gazelle erwischen sie dann? Sie ernähren sich von den alten, verletzten, schwachen, kranken und von den dummen Gazellen. Es darf doch gar nicht anders sein! Wäre der Gepard in der Lage, jede Gazelle zu erlegen, die ihm über den Weg läuft, Gazellen und Geparden wären längst ausgestorben.

Im großen Drama der organischen Entwicklung kann man Raubtiere nicht einfach als Feinde oder Schädlinge sehen. Nein, sie sind ein Teil der Mechanismen, der Siebe, der natürlichen Auslese, die dazu beiträgt, daß die Arten immer angepaßter, immer überlebensfähiger werden.

Dies ist ein grundsätzlicher Aspekt der Überlebensstrategien in der Entwicklungs-geschichte. Kein Räuber, Parasit oder, wie wir Menschen aus unserer einseitig opportunistischen Sicht heraus, uns ausdrücken, kein Schädling darf, in seinem eigenen Überlebensinteresse, so effizient sein, daß er seine "Ressourcen" total verzehren kann. Raubtiere, Parasiten, Krankheitserreger können einfach nicht so programmiert sein, daß sie gesunde Wesen wahllos vernichten können. Sie müssen anders programmiert sein, und zwar so, daß sie nur das nehmen, was irgendwie nicht ganz in Ordnung ist. Dann leben sie vom Ertrag, nicht vom Kapital, die Situation ist nachhaltig.

Die moderne Pflanzenmedizin, falls man sie so nennen darf, hat mit der modernen Menschenmedizin und der Veterinärmedizin einen Grundfehler gemeinsam, sie lebt von der Krankheit, nicht von der Gesundheit. Mit Präventivmedizin, mit Vorbeugen und Verhindern von Krankheit läßt sich leider nicht viel verdienen. Die heutigen Formen der Menschen-, Veterinär- und Pflanzenmedizin basieren daher vorwiegend auf Feindbildern. Mit Waffen kann man viel Geld verdienen. So wie die Pharma-industrie und, neuerdings, die Gerätebauer die Medizin vereinnahmt haben, hat auch die Agrarchemie - meistens sind es dieselben transnationalen Konzerne - die Pflanzenmedizin vereinnahmt.

Sieht man sich die mit schönen Farbbildern illustrierten Handbücher der Agrargift-hersteller an, die Blattlaus, der Kartoffelkäfer und andere Insekten, auch Milben und Nematoden, oder Pilze und Bakterien, sie werden dargestellt als willkürliche, tollwütige Feinde. Gleich im selben Text werden dann die Waffen angeboten: Insektizide, Akarizide, Nematizide, Fungizide und Bakterizide. Das sind mit ganz wenigen Ausnahmen, alles Biozide, das heißt, Gifte zum töten von Lebewesen.

Es werden auch dicke, ebenfalls gut farbig illustrierte Bücher verteilt, mit denen man alle möglichen Unpflanzen schon im Keimling erkennen kann, damit man sie leicht und einfach mit Pflanzenvertilgungsmitteln, genannt Herbizide, vernichten kann.

Wo es noch keine effizienten Waffen gibt, geht man oft vor, wie der General auf dem Rückzug, er sprengt seine eigenen Brücken, beschießt seine eigenen Dörfer. In den sechziger und siebziger Jahren hat das brasilianische Landwirtschafts-ministerium vergebens versucht, eine Bakterie (Xanthomonas citrii) auszurotten. Es ging um den Zitruskrebs. Eine Krankheit auf Zitrusbäumen, die mit Krebs nichts zu tun hat. Es bilden sich auf den Blättern warzenartige Nekrosen (totes Gewebe), von einem hellgelben Schein umgeben. Die Krankheit wurde dargestellt als tötliche Bedrohung für die gesamte Zitrusindustrie. Daraufhin hat man systematisch bei den Bauern, auch in Gärten und in Baumschulen, alle Zitruspflanzen vernichtet und verbrannt. Es genügte, daß die Behörde ein einziges Symptom auf einem einzigen Blatt auf einer einzigen Pflanze fand und sofort wurden, ungeachtet der Proteste der Eigentümer und ohne Entschädigung, sämtliche Zitruspflanzen auf dem Gut und anschließend im gesamten Kreis vernichtet. Auf diese Weise hat man damals im ganzen Staat Paraná die Zitruskultur ausgerottet, nicht die Bakterie. Ähnliches wird immer wieder zur "Ausrottung" der Schweinepest versucht. Wäre diese Methode sinnvoll, müßte man im Falle Aids ganze Städte auslöschen, eigentlich schon die gesamte Menschheit, denn, wo gibt es heute noch ein Dorf, in dem es keine Aidsinfizierten gibt!

Es wird heute zwar schon ziemlich allgemein zugegeben, daß es andere Wege gibt. Aber meistens, heißt es, organischer Landbau sei nur im kleinen Maßstab möglich, er sei viel zu teuer, zu elitistisch, nicht ausreichend erträglich. Für die Ernährung der explodierenden Menschheit gäbe es folglich keinen anderen Ausweg als die Methoden des modernen "Agribusiness". Wenn überall in der Welt, auch in der Ersten Welt, immer mehr Bauern aufgeben müssen, die überlebenden Betriebe immer größer, "moderner", werden, dann glauben oft die Opfer, daß sie selbst schuld sind, sie haben es eben nicht geschafft, mit der fortschreitenden Effizienz Schritt zu halten.

Chaboussou ging ursprünglich auch von der vorherrschenden Sichtweise aus, er war aber ein aufmerksamer Beobachter der Natur und ging allen Spuren nach. So hat er, unter anderem, festgestellt, daß die Kupfermittel, z.B. die Bordeaux-Brühe, welche seit über hundert Jahren im Weinbau erfolgreich gegen Pilzkrankheiten eingesetzt wird, im Laborversuch auf dieselben Pilze keine Wirkung zeigten. Warum wirkten sie dann im Weinberg? Es stellte sich heraus, daß die Reben unter Kupfermangel leideten. Eine ähnliche Beobachtung machten argentinische Forscher beim Zitruskrebs. Kupfermittel wirken in der Plantage, aber nicht auf die Bakterien-kulturen im Labor. Sie wunderten sich nur, zogen aber nicht den notwendigen Schluß. Ihre Bäume wurden weiter krankgemacht mit hohen Stickstoffgaben, Herbiziden und intensiver mechanischer Bodenbearbeitung.

Neben seinen Feldversuchen und intensiver Beobachtung der Natur hat Chaboussou auch alle ihm zugängliche Literatur zum Pflanzenschutz, besonders zum chemischen, durchforstet. Er sah bestätigt, was im organischen Landbau schon immer bekannt war. Der "Schädling" verschont die gesunde Pflanze. Was ist aber eine gesunde Pflanze? Es genügt nicht, daß sie gesund aussieht und zügig wächst. Der Stoffwechsel der Pflanze muß ausgeglichen sein, die Pflanze muß richtig ernährt sein. Er präsentierte daraufhin seine Theorie der TROPHOBIOSE.

Auf die einfachste Formel zusammengefaßt und in Umgangssprache ausgedrückt besagt diese Theorie: auf der gesunden Pflanze verhungert der Schädling, sie ist für ihn nicht nahrhaft, daher auch nicht schmackhaft, er meidet sie. Wichtig ist folglich nicht die Gegenwart oder Abwesenheit von Feinden, wichtig ist, daß unsere Anbaumethoden die Pflanzengesundheit fördern.

Das große Verdienst Chaboussous ist, daß er den biochemischen Mechanismus aufgedeckt hat. Eigentlich hätte er dafür den Nobelpreis bekommen müssen. Er wurde ignoriert, nicht nur von denjenigen, deren Geschäfte durch die neue Erkenntnis leiden würden, leider auch, soweit ich das überblicken kann, von der Bewegung des organischen Landbaus. Diese hat wohl nicht verstanden, welche bahnbrechende Auswirkungen für eine rasche Ausbreitung regenerativen Landbaus nun möglich werden.

Ich hatte das Glück, Chaboussou persönlich kennen zu lernen. Kurz vor seinem unerwartet plötzlichen Tode besuchte ich ihn auf seinem Landsitz bei Bordeaux. Zwei Tage lang machten wir praktische Beobachtungen auf Feldern und in Weinbergen und tauschten Erfahrungen aus. Er war ein sehr enttäuschter Mann. Statt Anerkennung, wurde er schwer unter Druck gesetzt und bekämpft.

Er hat gezeigt - was eigentlich unter Forschern im Pflanzenschutz nicht ganz unbekannt war und was heute die Chemische Industrie sehr wohl weiß - daß eine Pflanze für Schädlinge anfällig wird, wenn im Zellsaft ein überhöhtes Angebot von wasserlöslichen Nährstoffen vorhanden ist: Aminosäuren, Zucker und Minerale, sowie Nukleotide.

Aminosäuren sind die Bausteine, aus denen die Eiweiße zusammengesetzt sind. Für die Synthese, das heißt, den Aufbau von Eiweißen ist aber Energie notwendig. Diese wird in Form von Zucker angeliefert. Eiweiße sind aber nicht nur die wichtigsten Bestandteile der Gewebe der Lebewesen, als Enzyme steuern sie auch die biochemischen Vorgänge in der Zelle. Für ihre komplexe molekulare Struktur brauchen sie auch Minerale, wie Eisen, Magnesium, Mangan, Kupfer, Cobalt und viele andere. Bei der Verdoppelung der Zelle muß aber auch der genetische Code verdoppelt werden. Hierbei handelt es sich um ebenso komplexe Moleküle wie die Eiweiße. Während aber Eiweiße aus Aminosäuren zusammengesetzt sind, besteht der genetische Code in seinen langen Strängen auf denen die Gene (Eranblagen) reihenweise angeordnet sind, aus Nukleotiden, Zucker und Phosphat.

Wenn eine gesunde Pflanze sich nicht in Winterruhe oder, in Trockengebieten, in Sommerruhe befindet, ist der Saft arm an diesen Stoffen, denn, im selben Maße, wie sie in der Zelle angeliefert werden, werden sie auch gleich in der Proteosynthese (das ist der Aufbau von Eiweißen) verbraucht, da die Pflanze ja zügig wächst. Diese Pflanze ist für Parasiten uninteressant. Die Blattlaus, z.B., kann sich nicht von fremden Eiweißen ernähren, sie hat keine proteolytischen Enzyme, sie kann daher fremde Eiweiße nicht in ihre Bestandteile, die Aminosäuren zerlegen. Sie kann nur ihre eigenen Eiweiße aufbauen, dazu braucht sie den Stau im Zellsaft. Auch die ruhende Pflanze ist uninteressant, es ruhen ja die biochemischen Prozesse im Zellsaft und die Nährstoffe wurden vor Eintritt der Ruhe verbraucht.

Ein vereinfachtes Bild für Laien in Biochemie: Ein Haus wird abgerissen, zerlegt in seine Bestandteile: Ziegelsteine, Dachziegel, Rohre, Kabel, Bretter, usw. Dies entspricht der Proteolyse (Eiweißabbau). Mit diesen Materialien wird ein neues, aber anders geartetes Haus gebaut. Das entspricht der Proteosynthese (Eiweiß-aufbau). Wenn wir Menschen und andere höhere Tiere uns von fremden Eiweißen ernähren, laufen in uns beide Prozesse ab. Wir zerlegen die fremden Eiweiße, bauen dann aus ihren Bestandteilen unsere eigenen artspezifischen und auch individuum-spezifischen Eiweiße auf (natürlich bleibt dabei Schrott übrig, daher Exkremente und Harn). Die Blattlaus kann nur letzteres: sie kann nur das Haus bauen, nicht abreißen, sie muß die Baumaterialien fertig gestapelt vorfinden.

Zum Stau (gestapeltes Baumaterial) von Aminosäuren, Zuckern, Mineralen und Nukleotiden im Zellsaft kommt es, wenn entweder der Aufbau von Eiweißen gehemmt ist, oder wenn dazu mehr Bestandteile angeliefert werden, als gleich verbraucht werden können.

Hemmung in der Proteosynthese entsteht durch unausgeglichene Ernährung der Pflanze. Dies ist durch die Art, wie heute gedüngt wird, fast unvermeidlich. Die Kunstdünger, wobei es sich, fast immer um hochkonzentrierte wasserlösliche Salze handelt, werden in hohen Gaben gegeben, meist direkt mit der Saat eingedrillt, nur selten aufgeteilt in mehrere Gaben während der Wachstumsperiode. Zum dadurch ausgelösten Ungleichgewicht im Stoffwechsel der Pflanze kommt die Störung des Bodenlebens. Dieses wird auch durch die intensive mechanische Bearbeitung zusätzlich gestört oder vernichtet. Hinzu kommt, daß die Agrargifte auf dem Blattwerk vom Regen in den Boden eingewaschen werden und noch mehr Schaden anrichten. Ein intensives Bodenleben, besonders die Mykorrhiza, ist aber für eine ausgeglichene Aufnahme von Spurenelementen durch die Pflanze unentbehrlich. Spurenelemente sind wichtig für das Funktionieren der Proteosynthese. Die Gifte dringen aber auch direkt in den Zellsaft ein, selbst wenn es sich um nicht als systemisch deklarierte (in den Zellsaft eindringende) Gifte handelt, wodurch die komplizierten biochemischen Prozesse in der Zelle gestört werden. Daher die Beobachtung, daß mit zunehmender Anwendung von Giften immer mehr Schädlingsbefall auftritt und sogar Organismen, die früher kaum als Schädlinge bekannt waren, zu solchen werden, z.B. Milben und Nematoden.

Zur überhöhten Produktion von Aminosäuren kommt es durch die übertriebene Stickstoffdüngung, besonders Ammoniumdünger, wie z.B. Ammonsulfat, Ammonnitrat, Harnstoff und sogar Hühnermist, der reich ist an Harnsäure.

Würde die landwirtschaftliche Forschung Chaboussous Theorie auf dem Feld und im Labor auch nur testen, und sei es um sie zu widerlegen, und würden die landwirtschaftlichen Hochschulen, neben der offiziellen auch seine Sichtweise lehren, es käme rasch zu grundlegenden Änderungen in der Praxis. Die Bauern würden sehr bald merken, daß sie durch schrittweises Aussteigen aus den Giften ökonomische Vorteile hätten. So mancher Bauer, der durch die heutige absurde Agrarpolitik gezwungen wird aufzugeben, könnte überleben.

Obige, stark vereinfachte, Zusammenfassung von Chaboussous These scheint mir sehr wichtig, weil ich immer wieder feststellen muß, daß unter meinen Kollegen, den Diplomlandwirten, diejenigen, die das Buch besitzen (eine winzige Minderheit), es nie ganz lesen und oft das Grundsätzliche nicht verstehen. Für Laien ist das Buch auch tatsächlich nicht einfach. Nur wer sich im modernen chemischen Pflanzen-schutz auskennt, kann es mit Faszination lesen. Dies war bei mir vor zehn Jahren der Fall. Ich habe es damals im Original in zwei Nächten verschlungen und habe mich dafür eingesetzt, daß es sowohl ins Deutsche, als auch ins Portugiesische und Spanische übersetzt wurde. Ich hoffe, daß wir bald eine englische Ausgabe haben werden. Persönlich, sehe ich die Trophobiose fast jeden Tag bestätigt, auf dem Acker, im Obst und Weinbau, in meinen Gärten und Parks und sogar im Gewächshaus und bei Topfpflanzen. Während ich dies schreibe sehe ich vor meinem Fenster, in meinem Garten, einen großen Feigenbaum (Indischer Würgebaum, Ficus benjamina). Vor einem halben Jahr habe ich einen größeren Ast stark zurückgeschnitten (nicht das übliche Massaker, nein, ordentliche Baumkosmetik). Die neuen Sprosse an diesem Ast sind jetzt total mit Thrips befallen, all das übrige Laub am Baum ist frei. Kein Wunder - so schnell, wie Saft durch den dicken Ast angeliefert wird, können die neuen Sprossen gar nicht wachsen, folglich Stau von Nährstoffen.

Selbst bei der Blattschneideameise, die hier in Brasilien als einer der ärgsten Feinde der Landwirtschaft gilt, kann man immer wieder Chaboussou bestätigt sehen. Sie baut nicht umsonst ihre bis zu 70 m langen Straßen mit Brücken und Tunnels, um dann einen Busch, ein Kraut oder einen Baum zu demolieren, den es direkt neben dem Nestausgang auch gibt. Im Forst kann ich jedes Jahr wieder folgende, äußerst signifikante Beobachtung machen: Akazienplantagen für die Gewinnung von Tannin aus der Rinde, für die Lederindustrie, werden angelegt, indem in der Baumschule gezogene Sämlinge ausgepflanzt werden, und zwar in Reih und Glied. Handelt es sich um eine Fläche, auf der im Jahr vorher Akazien geschlagen wurden, befinden sich zwischen den ausgepflanzten Setzlingen auch viele frei aufgegangene Sämlinge. Diese stehen natürlich nicht in militärischer Formation. Die Ameise läßt diese stehen, nimmt die anderen, als sei sie gegen Geometrie! Die Förster greifen nur zum Gift, von Arbeitern habe ich schon gehört: "Ganz klar, die frisch ausgepflanzten Setzlinge sind noch schwach!" Obwohl die Blattschneideameise das von ihr geerntete Blattwerk nicht direkt verzehrt, sondern auf einem kompostartigen Kuchen einen Schimmelpilz zieht, von dessen Saft sie sich ernährt, scheint sie zu "wissen", daß der Pilz keine proteolytischen Enzyme hat...

Vielleicht kann diese Einleitung dazu führen, daß Chaboussou in der europäischen Landwirtschaft endlich ernst genommen wird. Es ist nicht zu spät.

José A. Lutzenberger
Porto Alegre, RS, Brasilien, November 1995

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