Plädoyer für eine giftfreie Landwirtschaft

Statt Schädlinge bekämpfen, Pflanzen stärken

Noch bis zur Jahrhundertwende war der traditionelle bodenständige Bauer gesamtwirtschaftlich gesehen ein sich selbst versorgendes System der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln. Er produzierte seine eigenen Betriebsmittel: seinen Dünger, seine Energie und sein Saatgut. Die Geräte, die er nicht selbst machte, kamen von den Handwerkern im Dorf. Er verkaufte den größten Teil seiner Produkte auf dem Wochenmarkt. Zum Teil war das noch so in den schweren Jahren nach 1945, was den Städtern half, durch Hamstern zu überleben. Heute müßte der Landwirt in ähnlicher Situation selber hamstern gehen, aber wo?

Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist es der Industrie gelungen, der Landwirtschaft den größten Teil ihrer Aufgaben abzunehmen. Deshalb mußte auch die Mehrzahl der Bauern aufgeben, ein Prozeß, der noch lange nicht zu Ende ist. Aus der Sicht der Großindustrie und der Technokraten in Brüssel, soll dem Bauern nur noch derjenige Teil seiner ursprünglichen Arbeit verbleiben, der die größten Risiken beinhaltet - eigentlich nur noch das Traktorfahren, Dünger- und Giftestreuen, sowie die Risiken schlechter Ernten, steigender Preise für Betriebsmittel und fallender Preise seiner Erzeugnisse voll und ganz zu übernehmen.

Die Methoden der modernen Landwirtschaft wurden nicht vom Bauerntum erfunden oder verlangt, sie wurden von der Großindustrie in ihrem eigenen Interesse gefördert. Es gelang ihr, landwirtschaftliche Fach- und Hochschulen und besonders die Forschung zu vereinnahmen. Wo sie die öffentliche Beratung nicht beherrscht, macht sie ihre eigene Beratung, direkt beim Bauern.

So kam es unter anderem zu der rabiaten Anwendung von Giften in der landwirtschaftlichen Produktion. Es hat sich ein eigenartiges Dogma durchgesetzt. Es besagt, eine effiziente und wirtschaftlich interessante Erzeugung von Nahrungsmitteln sei nur möglich, wenn wir die "Feinde" unserer Ernten chemisch bekämpfen. Nur so könnten wir die Milliarden Menschen, die wir schon sind und die immer mehr werden, noch ernähren. Eigentlich eine absurde Vorstellung, haben doch Gifte und Nahrung nichts beieinander zu suchen.

Der Schädling, ob es sich um Insekten, Milben, Nematoden, Pilze, Bakterien oder Viren handelt, wird dargestellt als willkürlicher, tollwütiger Feind. Es werden sogar Warndienste aufgestellt, um die Landwirtschaft rechtzeitig vor dem Anrücken der feindlichen Heere zu warnen. Auch Spritzkalender werden erarbeitet, die vorbeugende Spritzungen empfehlen, gegen all die Feinde, die auftauchen könnten. Es wird gar nicht erst gewartet bis tatsächlich eine Attacke stattfindet. Der Schädling, falls er kommt, soll gleich in ein vergiftetes Feld eintauchen.

Aber der Schädling ist kein willkürlicher Feind. Wenn dem so wäre, gäbe es längst kein Leben mehr auf diesem schönen Planeten, gibt es doch keine Art, die nicht ihre Parasiten oder Räuber hat. Blattläuse gibt es seit fast dreihundert Millionen Jahren. Sie hätten doch längst ihre Wirtspflanzen ausrotten müssen und wären dann selbst verschwunden. Die Tatsache, daß Blattläuse auch ihre natürlichen Feinde haben erklärt nicht ausreichend, daß dem nicht so ist. Wer die Natur eingehend beobachtet, kann immer wieder sehen, daß trotz Gegenwart der natürlichen Feinde, z.B. Schwebefliegen oder Marienkäferchen, eine Blattlauspopulation sich rasant ausbreitet oder, daß eine starke Population auch in Abwesenheit der Räuber ganz plötzlich wieder zusammenbricht. Auch Pilz-, Bakterien- oder Viruskrankheiten können sich ausbreiten oder zusammenbrechen, oft auf ein und derselben Pflanze, innerhalb kurzer Zeit.

Der Schädling ist aber nicht böse und unberechenbar. Wir müssen ihn sehen als Indikator, als Zeiger, der uns sagt, daß unsere Pflanze nicht in Ordnung ist. Hier ist ein anderer, sehr wichtiger Faktor im Spiel. Im biologischen Landbau macht man immer wieder die Beobachtung, daß etwa ein organisch bewirtschaftetes Kartoffelfeld vom Kartoffelkäfer verschont bleibt, obwohl das konventionell chemisch behandelte Feld nebenan total befallen ist und nur noch mit Anwendung von Insektiziden zu retten ist.

Francis Chaboussou, ein französischer Biologe und Forscher beim landwirtschaftlichen Versuchszentrum in Bordeaux, hat im Laufe jahrelanger Beobachtungen und in Versuchen auf dem Feld und im Labor herausgefunden, wie die Anfälligkeit oder Widerstandsfähigkeit der Pflanzen gegenüber Schädlingen davon abhängt, ob die Pflanze sich in ihrem Stoffwechsel im Gleichgewicht befindet oder nicht. Nur die in ihrer Ernährung unausgeglichene Pflanze wird angegriffen. Er postulierte daraufhin seine Theorie der Trophobiose (übersetzt etwa Ernährungsbiologie). Chaboussous Buch wurde ins deutsche übersetzt:

Francis Chaboussou
PFLANZENGESUNDHEIT UND IHRE BEEINTRÄCHTIGUNG
Die Schädigung durch synthetische Dünge- und Pflanzenbehandlungsmittel
Verlag C.F. Müller, Karlsruhe, Serie Alternative Konzepte, 1987, ISBN 3-7880-9741-8.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Francis Chaboussou
SANTÉ DES CULTURES
Une Révolution Agronomique
Flammarion, La Maison Rustique, Paris, 1985,
ISBN 2-7066-0150-7.

Chaboussous Buch ist leider für Laien schwer lesbar, da es nicht nur gewisse chemische Grundkenntnisse voraussetzt, sondern auch eine gute Familiarität mit dem chemischen Pflanzenschutz ganz allgemein. Da es kaum gelesen wurde und auch von den verschiedenen Schulen des organischen Landbaus in seiner monumentalen Bedeutung kaum erkannt und ernst genommen wurde, hat die Chemie sich damit gar nicht auseinandergesetzt. Sie hat es einfach ignoriert, anders als Anfang der sechziger Jahre Rachel Carsons Buch, DER STUMME FRÜHLING. Frau Carson wurde damals auf unflätigste Weise von der Großchemie attackiert.

Die Theorie der Trophobiose besagt: Auf der gesunden Pflanze verhungert der Schädling. Um auf den Wirtspflanzen gedeihen zu können, muß für die Schädlinge im Saft der Pflanze ein überhöhtes Angebot an wasserlöslichen Nährstoffen vorhanden sein. Sie sind nicht in der Lage, sich direkt von fremden Eiweißen zu ernähren, da sie keine proteolytischen, das heißt, eiweißzerlegenden Enzyme haben. Sie müssen im Saft der Pflanze ausreichend Aminosäuren, das sind die Bestandteile, sozusagen die "Bausteine", in die Eiweiße zerlegt werden, vorfinden. Es muß auch Zucker statt wasserunlöslicher Stärke da sein und die notwendigen Mineralnährstoffe müssen verfügbar sein. Dann können sie ihre eigenen, artspezifischen Eiweiße aufbauen und sich zügig vermehren, aber nur solange der unnatürlich hohe Gehalt an Aminosäuren, Zucker und Mineralien nicht wieder abnimmt.

Eine gesunde Pflanze befindet sich entweder in Winterruhe oder, in trockenen Gebieten, in Sommerruhe, dann ruhen auch die biochemischen Vorgänge im Zellsaft, oder sie wächst zügig, dann ist der Stoffwechsel im Zellsaft intensiv. In demselben Maße, wie sie angeliefert werden, werden dann die Aminosäuren, der Zucker und die Minerale im Aufbau neuer Eiweiße verbraucht. Der Zellsaft bleibt dann ziemlich arm an diesen Stoffen. Für den Schädling reicht es nicht, er verhungert oder überlebt gerade noch, kann sich aber nicht ausbreiten. In den meisten Fällen wird er eine Pflanze in diesem Zustand gar nicht aufsuchen, sie ist für ihn nicht "schmackhaft".

Wann aber gibt es einen Stau von Aminosäuren, Zucker und Mineralien im Zellsaft? Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:

  • die Proteosynthese, der Aufbau neuer Eiweiße, ist gehemmt, wenn auch nur teilweise;
  • es werden im Zellsaft mehr Aminosäuren angeliefert, als in die neuen Eiweiße eingebaut werden können

Welch aufmerksam, konventionell arbeitender Landwirt, welcher Agronom hat nicht schon gemerkt, daß, je mehr Agrargifte angewendet werden, desto mehr Probleme mit Schädlingen auftreten. Nicht nur die alten, auch neue Schädlinge treten auf. Vor der massenhaften Anwendung von Giften in der Landwirtschaft, noch bis in die fünfziger Jahre, waren Milben kaum ein Problem, auch Bakteriosen und Virosen waren Ausnahmen.

Chaboussou hat gezeigt, daß Agrargifte, auch wenn sie als reine Kontaktgifte gelten, immer auch in die Pflanze eindringen und auf den Stoffwechsel einwirken. Es ist, wie Sand in einem Getriebe. Selbst bei geringer Wirkung kann es dabei zu empfindlichen Hemmungen in der Proteosynthese kommen, folglich zum Stau von Aminosäuren. So kann auch die Anwendung von Herbiziden zum Auftreten von Schädlingen führen, Fungizide können Insektenbefall auslösen oder weitere Krankheiten, ebenso Insektizide oder Akarizide u.a.

Auch eine unausgeglichene Mineraldüngung kann zu Hemmungen führen. In der modernen Landwirtschaft füttern wir unsere Kulturpflanzen mit hochkonzentrierten, meist wasserlöslichen Salzen, den Kunstdüngern. Diese werden oft schon mit der Saat eingedrillt. Das junge Pflänzchen hat am Anfang zuviel, dann zuwenig. In beiden Fällen wird der Stoffwechsel gestört.

Auch führt die Zerstörung des Bodenlebens durch Humusabbau und durch die Gifte oft dazu, daß die Pflanze unter Spurenelementmangel leidet, obwohl die entsprechenden Elemente reichlich vorhanden sind. Das ist z.B. der Fall bei Chlorose, Eisenmangel, im Weinbau. Es ist genügend Eisen im Boden vorhanden aber die starke Verbackung durch schwere Maschinen und/oder das beinahe Verschwinden des Bodenlebens, behindern die Aufnahme von Eisen. Die Chemie bietet dann Eisenchelate zur Anwendung aufs Blatt. Erst fördert man die Krankheit, dann verkauft man die Medikamente. Mangel an Spurenelementen führt auch zu gestörtem Aufbau von Eiweißen.

Und wie kommt es zu einer überhöhten Produktion von Aminosäuren im Zellsaft? Wenn wir massiv Stickstoffdünger anwenden, besonders Ammoniumsalze, wie Ammonsulfat, Ammonnitrat, Kalkammonsalpeter, Diammonphosphat oder Harnstoff und andere - es kann auch eine Überdüngung mit Hühnermist sein, der reich ist an einer anderen Ammoniumverbindung, Harnsäure - dann zwingen wir die Pflanze geradezu zur Überproduktion von Aminosäuren. Jetzt sind soviel Aminosäuren vorhanden, daß der Eiweißaufbau damit nicht fertig wird. Auch dann kommt es zum Stau.

Den Stau sieht man der Pflanze nicht unbedingt an. Ein Bild: Wenn auf einer mehrspurigen Autobahn eine kleine Einengung zu einem kilometerlangen Stau führt, sieht man das dem Verkehr jenseits der Einengung nicht an, es fließt wieder alles normal. Manchmal hat nur ein unerwartetes kurzes Bremsen eines einzigen Wagens die Geschichte ausgelöst, man kann nicht mehr nachvollziehen, was und wo die Ursache war. Eine Pflanze kann also ganz normal aussehen, nur durch Analyse des Zellsafts kann man den Stau an Aminosäuren feststellen. Ein Bild für den gegenseitigen Effekt bietet das Ende des Fußballspiels im großen Stadion. Jetzt wollen soviele Wagen gleichzeitig auf die Bahn, daß diese den Fluß nicht schnell genug bewältigen kann.

Die Erkenntnis Chaboussous ist von umwerfender Bedeutung. Sie widerlegt die Grundvoraussetzung des chemischen Pflanzenschutzes. Auch die biologischen Bauern gehen oft noch von dem Bild des Schädlings als willkürlichem Feind aus, sie wollen nur die Gifte durch harmlosere Bekämpfungsmittel und Methoden oder durch natürliche Feinde der Schädlinge ersetzen.

Es geht also nicht darum, wie können wir immer neue Waffen gegen immer neue und resistentere Schädlinge entwickeln, wir müssen lernen, so zu arbeiten, daß unsere Pflanzen ausgeglichen ernährt werden, dann kommt es nicht zu Störungen im Stoffwechsel. Dies ist nur auf einem lebendigen Boden möglich. Bis Ende der vierziger Jahre ging die landwirtschaftliche Forschung und Lehre noch ganz in diese Richtung. Dieser Weg wurde nicht aus wissenschaftlichen Gründen aufgegeben, er setzt mehr und tiefere Wissenschaft voraus. Der Krieg mit den Giften basiert auf blankem Empirismus - draufhauen, sehen wie es wirkt! Anderthalb Jahrzehnte habe ich bei der Großchemie gearbeitet, habe beobachten können, wie die Agrargifte entwickelt und gefördert wurden, das hatte mit echter Wissenschaft wenig zu tun. In den meisten Fällen ist es reines Geschäft mit patentierten Handelsprodukten.

Wer organischen Landbau fördert muß meisten umsonst, als Idealist arbeiten. Mit patentierten Produkten aber, oder mit solchen, die zwar keine Patente haben, die aber nur in großen Chemiefabriken hergestellt werden können, wie die Kunstdünger oder Geräte, die aus großen Machinenfabriken stammen, können mächtige techno-bürokratische Apparate aufgebaut werden.

Deshalb begegnen wir auch heute in allen Parlamenten der Welt einer starken Lobby, die, wo dies noch nicht geschehen ist, die Verabschiedung von Gesetzen verlangt, die das Patentieren von Lebewesen und Teilen von Lebewesen, bis hin zu einzelnen Genen, möglich machen. Es sind dieselben transnationalen Konzerne, die sich mit den Agrargiften stark gemacht haben. Jetzt wollen sie, unter anderem, mit patentiertem, genetisch manipuliertem Saatgut den überlebenden Bauern noch den letzten Rest von Selbstständigkeit nehmen. Es geht hier zum Teil um Saatgut, welches schon mit Kunstdünger, Insektizid, Fungizid und mit einem Totalherbizid beschichtet ist. Die Züchtung dieses Saatguts geht nicht in die Richtung Resistenz gegen Schädlinge, sondern Resistenz gegen das eigene Herbizid.

Mit den Methoden der modernen Landwirtschaft wird das Bodenleben fast immer geschädigt, wenn nicht fast total vernichtet. Im gleichen Maße, wie das Bodenleben zerstört wird, wächst das Geschäft mit den Agrargiften. Am Anfang war dieser Zusammenhang denen, die die Gifte fördern, nicht bewußt, sie freuten sich über die vielen und immer zahlreicher werdenden Schädlinge. Heute hängt ihr Überleben davon ab.

Dem Bauerntum muß bewußt werden, daß die Methoden der modernen Landwirtschaft wenig mit echtem technischen Fortschritt, aber sehr viel mit der Strukturierung von Abhängigkeiten zu tun haben.

Der beste Beweis dafür, daß in der Landwirtschaft heute etwas sehr faul ist, ist das Einkommen der Bauern. Laut statistisches Bundesamt (1991) liegt das durchschnittliche verfügbare Jahreseinkommen je Haushaltsmitglied der Landwirte an vorvorletzter Stelle, unter den Fabrikarbeitern, gerade noch über den Arbeitslosen und den Sozialhilfe-empfängern, mit nur DM 14.500,-. Was ist das für ein Wirtschaftsmodell, daß die wichtigste Aktivität für das Überleben der Gesellschaft, das Zusammenwirken mit der Schöpfung für die Sicherung der Nahrungsmittel und die Erhaltung einer gesunden Landschaft, so schlecht honoriert? Eigentlich entspricht dies der ökologischen Qualität der heutigen Landwirtschaft.

Diesen Prozeß müssen wir umkehren. Das bedeutet, als Erstes, organische Bodenbewirtschaftung, möglichst keine mechanische Gewalt am Boden, kein tiefes Pflügen mehr, minimale Bodenbearbeitung und möglichst Direkteinsaat. Der Boden muß immer bedeckt sein, entweder eine grüne oder eine tote Decke haben. Unerwünschte Naturkräuter kontrolliert man durch die richtige Fruchtfolge oder, wie im Obst, Weinbau und Hopfen, mit der richtigen Gründecke, die auch Leguminosen (Hülsenfrüchte) enthalten soll.

Nur in einem humusreichen Boden können die Pflanzen mit Hilfe der Mykorrhiza alle notwendigen Spurenelemente aufnehmen. Mykorrhiza ist die Lebensgemeinschaft (Symbiose) zwischen Pflanze, gewissen Pilzen und bestimmten Bakterien, die sich an den Haarwurzeln einstellt. Dieser lebendige Komplex kann die Spurenelemente direkt aus dem Gestein, daß heißt, aus den Sandkörnchen im Boden herauslösen und der Pflanze verfügbar machen. Die Mykorrhiza und auch freilebende Bakterien und Pilze, sowie kleine tierische Lebewesen, z.B. Springschwänze, auch größere, besonders der Regenwurm, ermöglichen auch die Aufnahme des festgelegten Phosphors und Kalis, sowie des Kalziums und Magnesiums. Daher brauchen wir auf einem humusreichen Boden keine teuren wasserlöslichen Phosphate, wie Super- und Triplesuperphosphat, schon gar nicht die noch teureren Formen von Phosphor, wie sie in den Komplexdüngern enthalten sind. Es genügt billiges Rohphosphat. Es bedarf aber keiner hohen Gaben mehr, die meisten deutschen Böden dürften heute, bei organischer Bewirtschaftung, genug Phosphor für Jahrzehnte haben, da jahrzentelang mit Phosphor überdüngt wurde und dieser sich im Boden festlegte. Phosphor wird nicht ausgewaschen, höchstens durch Erosion abgeschwemmt.

Und warum sollen wir bei der Industrie teuren Stickstoff kaufen, wenn in einem gesunden Boden die Bakterien an den Wurzeln der Leguminosen, (Rhizobium) und freilebende Bakterien, wie Azotobakter, den Stickstoff direkt aus der Luft entnehmen? Dies geschieht bei normalen Temperaturen und Drucken. Die Industrie dagegen macht das im aufwendigen Haber-Bosch-Verfahren, bei gewaltigen Drucken und hohen Temperaturen, mit enormem Energieaufwand. Die Bakterien brauchen dazu nicht mehr als einen Teil der einfallenden Sonnenenergie, die ihnen die Pflanze durch Ausscheidung an der Wurzel liefert oder, die sie dem Humus entnehmen. Der so direkt aus der Luft entnommene Stickstoff wird der Pflanze sachte und kontinuierlich angeliefert, do daß es nicht zu Stoffwechselstörungen kommt.

Die modernen Methoden der Düngung auf unseren konventionellen Äckern sind somit ein wichtiger Teil der Ursache für die Zunahme von Schädlingsbefall. Die hochkonzentrierten, meist wasserlöslichen Salze der Kunstdünger stören die komplexen biochemischen Vorgänge im Boden ganz empfindlich. Sie sollten deshalb möglichst vermieden werden und, wo nötig, durch wasserunlösliche Mineraldünger, wie Rohphosphat oder Gesteinsmehle ersetzt werden. Wo verfügbar, arbeiten wir mit organischen Düngern, Kompost oder Flächenkompostierung. Bei richtiger organischer Bodenbewirtschaftung können wir aber den Humus auch ohne zugeführte fremde organische Masse aufbauen. Das Vernünftigste ist aber eine Landwirtschaft mit vielfältiger Produktion, die auch Tiere in die Kreisläufe einschließt.

Gelingt es uns, die Pflanze vom Boden her zu gesunden, können wir auf Gifte ganz verzichten. Wir benutzen dann statt der teuren und gefährlichen Fungizide und Insektizide nur noch Mittel, die die Pflanze stärken und stimmulieren und die für Mensch und Natur völlig harmlos sind. Herbizide kommen sowieso nicht in Frage, wir wollen ja durchgehend lebende Pflanzen auf dem Boden sehen.

Ich will hier nur einige konkrete Beispiele nennen. In meiner Heimat, Südbrasilien, haben wir einige Apfelpflanzer, die, obwohl unser Klima für Äpfel nicht das allerbeste ist und Äpfel zu den schwierigsten, am meisten chemisch bespritzten Kulturen gehören, die köstlichsten Äpfel produzieren. Es wird nur regelmäßig gespritzt mit einem "Mittel", das der Pflanzer selbst herstellt, das ihn gar nichts kostet, außer Überlegung und ein wenig Arbeit. Es entspricht einer ausgereiften Biogasgülle, wird aber in offenen Tonnen im Sommer hergestellt.

In eine 200 Liter Trommel mit Wasser werden 50 kg frischer Kuhdung gegeben. Hinzu kommen einige Kilo Zucker oder Melasse und Holzasche, auch etwas Kalk. Einige, die es noch besser machen wollen, geben verschiedene Spurenelemente dazu, wie Zink, Mangan, Kupfer, Bor, Kobalt, Molybdän, Eisen. Man läßt die Brühe, bei Temperaturen über 20ºC, ca. einen Monat ausreifen. Das Biogas geht in die Luft. Die ausgereifte Soße wird dann in einer Verdünnung von 1 bis 5% gespritzt, je nach Witterung, alle 15 Tage oder wöchentlich. Die Fruchtfliege wird mit Melasse geködert. Auf den gesunden Apfelbäumen ist sie aber kaum aggressiv. Im Winter werden die Stämme mit Kalkbrühe behandelt. Die Kosten liegen nahe an 10% dessen, was konventionelle Apfelpflanzer ausgeben müssen. Die Äpfel haben auch bessere Lagerfähigkeit. Ich höhrte einmal im Tirol, die Alten hätten auch mit einer Form von Gülle auf ihren Apfelbäumen gearbeitet...! Organischer Landbau ist nicht teurer, im Gegenteil, er ist billiger als der Konventionelle! Er setzt allerdings etwas mehr Köpfchen, weniger blinde Akzeptanz fertiger Rezepte voraus. Interessant ist, wie sich die offiziellen Berater und Forscher weigern, diese Plantagen überhaupt zu besichtigen.

Ein weiteres Beispiel aus meiner Gegend. Ein großer Obstbauer, der Guavas anbaut, eine hier beheimatete Frucht, die in Deutschland unter diesem Namen aus Südafrika importiert wird, hält sich seit fünfzehn Jahren an eine Empfehlung von mir. Es handelt sich um eine industriemäßige Plantage (65 ha. mit 28.000 Bäumen und einer kleinen Marmeladefabrik. Ertrag ca. 1000 to/Jahr). Er spritzt alle zwei Wochen mit Molke statt Fungiziden, ja, Molke von der Käserei(!), 1 zu 5 oder 1 zu 10 verdünnt. Die Pflanzen entwickeln dunkelgrün lederige Blätter. Die Früchte sind einwandfrei und köstlich. Für einen Tankwagen Molke muß er soviel ausgeben wie früher für einen einzigen Kanister Fungizid. Auch Insektizide kennt er keine mehr. Die Fruchtfliege ist auch hier ein geringes Problem, er ködert sie mit Melasse oder Schweineblut aus dem Schlachthaus, ebenfalls 1 zu 10 verdünnt. Die Fruchtfliege wird aber jedes Jahr seltener. Zum Kurzhalten der Gründecke dürfen Schafte, manchmal auch Rinder, weiden. Eine weit größere ebensolche Plantage nebenan, die bisher chemisch arbeitete, war nahe daran aufzugeben, weil die Kosten für die vielen Gifte immer unerschwinglicher wurden. Sie stellt jetzt auf organisch um.

Ich kann mir vorstellen, daß Molke im Hopfenanbau die Fungizide völlig überflüssig machen kann. Fruchtfliege gibt es beim Hopfen sowieso nicht. Was Milben, Rote Spinne, angeht, haben wir hier die Erfahrung gemacht, daß selbst auf konventionell bewirtschaftetem Obst, Milch (1 zu 10 bis 1 zu 20 verdünnt) hervorragend wirkt. Außerdem wird es bei Aufgabe der modernen Fungizide auf Hopfen kaum noch Milbenbefall geben.

Im Staat Rio de Janeiro ist seit einigen Jahren die Mehrzahl der Pflanzer von Ananas dazu übergegangen, die Fungizide durch Rinderharn (1 zu 10 verdünnt) zu ersetzen, mit großem Erfolg und enormer Kosteneinsparung. Auch hier sind die Früchte köstlicher und haltbarer.

In Kaffee, Kakao und Zitrus führt organische Bodenbewirtschaftung sehr schnell zu gesunden Pflanzen, man kommt völlig ohne Fungizide und Insektizide aus. Im Kaffeebau kann man die grüne Decke mit Schafen kurzhalten.

Man könnte noch viele weitere konkrete Beispiele aufzählen, wichtig ist hier das Grundprinzip - die angewendeten Mittel sind keine Kampfmittel gegen böse Feinde, sie stärken die Pflanze und stimmulieren Eiweißaufbau, machen die Pflanzen für Schädlinge uninteressant.

Aus dem Klärschlamm eines Zellstoffwerks erzeuge ich in meiner Firma, "Vida Produtos Biologicos Ltda.", ein Humuskonzentrat mit Spurenelementen. In stark verdünnter Form aufs Blatt ausgebracht, wirkt dieses Mittel auf fast allen Kulturen ganz hervorragend, nicht nur auf dem Feld, im Obstbau und Gemüse, auch auf Blumen im Gewächshaus. Bei Orchideen bewirkt es wahre Wunder. Die Orchideenzüchter freuen sich über die gute Bewurzelung und herrliche Blumentracht.

Ich kann den Eindruck nicht loswerden, man habe, im Sinne bestimmter Interessen, in Deutschland Biogas "totgeforscht" indem man nur die Energie sah und zum Teil die ausgereifte Gülle auch noch entsorgt hat. Wir machen hier seit Jahren die Erfahrung, daß Biogasgülle, wenn gut ausgereift, sowohl direkt auf den Boden, wie verdünnt aufs Blatt, phantastisch wirkt, Agrargifte werden völlig unnötig!

Die "Palette", wie die Agrarchemie so gerne sagt, der harmlosen alternativen Mittel ist groß: Biogasgülle, Humusextrakt, Molke, Milch, Yoghurt, Aminosäurelösungen, Blut, Harn, Kräuterextrakte, Gesteinsmehle, Kalk, Bentonit, Asche, Wasserglas und vieles mehr.

In diesen Richtungen muß jetzt intensiv experimentiert werden, aber beim Bauern selbst. Wenn wir abwarten, daß die offiziellen Stellen das für uns tun, können wir lange warten. Die Industrie wird höchstens versuchen, einige dieser Erkenntnisse so zu nutzen, daß für sie patentierte Produkte herauskommen, die sie teuer verkaufen kann.

Selbstverständlich gibt es auch hier Mißerfolge, aber weniger als im chemischen Pflanzenschutz. Eine Pflanze kann auch durch klimatische Schocks in eine Situation von Stoffwechselstörung geraten. Dagegen sind wir leider meistens hilflos. Man siehe die sporadisch im Forst auftretenden Schädlingsbefälle, wie z.B. Motten. Als vor einigen Jahren hier im Süden das Ozonloch sehr stark war, hat die Blattschneideameise auf unserem Gut, dem Gaia-Hof, einheimische Kugelkakteen so abgetragen, daß nur ein Gerüst von Stacheln übrigblieb.

Wenn wir die fortschreitende Entwurzelung des Bauerntums umkehren wollen, müssen wir die Landwirtschaft wieder biologisch gesund machen, dann wird sie auch ökonomisch wieder nachhaltig, der bäuerliche Familienbetrieb kann überleben.

Es muß zu einer allgemeinen Umstellung kommen. Wir können aber nicht mehr warten bis das Problem sich löst, indem jedes Jahr einige Dutzend oder sogar einige Hundert Betriebe auf lupenrein biologisch umstellen, entsprechend der einen oder anderen Schule im organischen Landbau. Das würde viel zu lange dauern. Auch ist eine sofortige Totalumstellung für einen Landwirt, dem sowieso das Wasser zum Halse steht, viel zu riskant. Nacheinander immer weniger von den teuren chemischen Betriebsmitteln nehmen, bedeutet aber wachsende Einsparungen, die zu wirtschaftlichem Überleben führen. Der Weg in eine allgemeine Umstellung auf regenerative Landbaumethoden muß schrittweise erfolgen. Wenn Hunderttausende von Betrieben sukzessive weniger Gifte und Kunstdünger nehmen, und seien es anfangs nur wenige Prozent, ist das ökologisch und sozial ein viel größerer Fortschritt.

Wir müssen Wege finden, daß von nun an bewußt in diese Richtung gearbeitet wird. Dann können wir in relativ kurzer Zeit eine gesunde Landwirtschaft und saubere Lebensmittel haben.

José A. Lutzenberger
Porto Alegre, RS, Brasilien, 28. Juli 1995

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